Wunderschöne braune Augen

Mir gegenüber sitzen Samir und sein Onkel Abdullah. Samir ist 27 Jahre alt, ein junger Mann mit strahlend blauen Augen, langen Wimpern. Er ist mittelgroß und hat eine gute Figur. Seine Haare sind nackenlang und er trägt einen lässigen Scheitel.  Seit ein paar Wochen ist Samir im Camp Iserlohn. Camp so nennt er die verschiedenen Flüchtlingslager, die er seit seiner Flucht aus Syrien durchlaufen hat.  Er hofft hier ein zu Hause und Arbeit zu finden. Samir hat in Syrien an einer Universität Jura  studiert mit einem diplomierten Abschluss. Er spricht gut Englisch und fängt an mir seine Geschichte zu erzählen:

Ein Bürgerkrieg, der seit 2011 in Syrien tobt. Ein Land, in dem fallende Bomben, Gewehrschüsse, Tote  und Verletzte zum täglichen Bild gehören. Samir ist in Nord-Syrien aufgewachsenen, lebt dort zusammen mit seinem Bruder, seiner Schwester und seinen Eltern. Nach seinem Studium hat Samir dort gearbeitet. Doch der Krieg kommt langsam aber sicher näher und erreicht letztlich seine Stadt. Mit seiner Familie flüchtet Samir, das eigene Haus und alle eigenen Habseligkeiten müssen zurückgelassen werden.  In einem Dorf, das noch nicht vom Krieg betroffen ist, bleibt die Familie. Man wohnt und schläft in Zelten. Im letzten Winter muss Samir mit ansehen, wie drei Kinder erfrieren und zwei Erwachsene verhungern. Der Tag kommt, an dem der Krieg auch dieses Dorf erreicht. Samir, sein Onkel und sein Bruder beschließen zu flüchten. Die Flucht wird viel Geld kosten, dass wissen sie. Daher können nicht alle mit. Die Eltern und die Familie seines Bruders bleiben in Syrien, in der Hoffnung, irgendwann auf legalem, behördlich abgesichertem Weg nachzukommen. Samirs Schwester bleibt ebenfalls dort, wird aber in Kürze mit einer anderen Gruppe flüchten. Sie wollen nach Deutschland. Von Deutschland haben sie über das Internet und Fernsehen gehört. Deutschland, ein Land in dem die Menschen sicher sind. Dort sollen nette Menschen leben, Menschen, die wissen, wie es ist im Krieg zu leben. Deutschland bedeutet für ihn Hoffnung und Zukunft.

 

Während Samir erzählt beobachte ich ihn. Seine Augen sprechen eine andere Sprache als sein Mund, der seine Geschichte mit einem Lächeln erzählt. Ich frage mich wie es in ihm aussieht. Was hat das Erlebte mit ihm gemacht. Ich frage ihn. Er antwortet, dass er sich sehr, sehr schlecht gefühlt hat. Während seiner Flucht hat er oft gedacht sterben zu müssen, war hoffnungslos und traurig. Er will nach vorne schauen, Hilfe annehmen. Er will eine Zukunft.

 

Auf seiner Flucht ist Samir zusammen mit seinem Bruder, seinem Onkel und drei weiteren Personen.  Der Weg führt über die Grenze in die Türkei, über Griechenland nach Mazedonien. Von Mazedonien über Serbien nach Ungarn. Von Ungarn letztlich nach Deutschland.

Zu Fuß beginnen sie ihren langen Weg durch die Türkei.  Im Vergleich zu dem was noch kommen wird, ist dieser Teil der Strecke relativ harmlos. Anderen Gruppen, die sie sehen, werden überfallen und ausgeraubt. In einem zu kleinem Boot versucht Samirs Gruppe nach Griechenland zu kommen.  Doch kurz vor der Küste kentert das Boot, durch aufgewühltes Wasser und der Tatsache, dass zu viele Menschen an Bord sind. Die wenigen Dinge die Samir und der Rest seiner Gruppe dabei haben, sind weg. Fortgespült. An Land sehen Menschen die in Not geratene Gruppe im Wasser, keiner hilft. Ca.6 Stunden sind Samir und die Anderen im Wasser, der jüngste von ihnen ist 17 Jahre alt. Dann endlich gelingt es ihnen an Land zu kommen. Sie schmieren Polizisten mit Geld, damit Sie weiter gehen können. Um weiter zu kommen müssen die 6 erneut in ein Boot. An der nächsten rettenden Küste lässt man sie wieder nicht an Land. Zwei Tage und Nächte sind Samir und seine Gruppe auf diesem Boot. Ohne Wasser und Essen. Zwei Tage die offenlassen, ob sie weiterleben oder ob dies hier die Endstation ist. Letztlich hilft auch hier ein wenig Geld, endlich Boden unter den Füßen zu haben.

Von hier aus geht es zu Fuß weiter. 7 Stunden dauert es über die Berge nach Serbien zu gelangen. In den Bergen befinden sich Hunderte von Menschen, die ebenfalls versuchen einen Weg zurück ins Leben zu finden.  Die Berge sind ca. 2500 m hoch und der Anstieg dadurch schwer. Wieder ohne genügend Essen und Trinken. Ältere Menschen haben nur eine geringe Chance den Weg zu finden. Man hilft sich so gut es geht, trotzdem ist hier jeder irgendwie für sich selbst verantwortlich.  In Serbien hält sich Samir mit seinen Leuten nur einen Tag auf, um Kraft zu sammeln. Vor ihnen liegt Ungarn und sie wissen, dass große Probleme vor ihnen liegen. Drei Tage verbringen sie, wieder mit vielen anderen Menschen, in den Wäldern. Sie verstecken sich gut, um nicht von der ungarischen Grenzpolizei aufgegriffen zu werden. Essen und Trinken gibt es nicht. Die Menschen in den Wäldern trinken durch die Hitze verseuchtes Wasser aus Bächen. Kinder weinen vor Durst und Hunger. Familien versuchen zusammen zu bleiben. Samir trifft einen Mann, der ganz alleine unterwegs ist und dort auf seine Familie wartet. Eine Familie, die vielleicht nie kommen wird. Samir und seiner Gruppe gelingt es durch die Wälder an eine Straße zu kommen. Mit ihrem letzten Geld halten sie ein Taxi an und fahren bis Budapest. Während ihrer ganzen Flucht hat Samirs Gruppe immer wieder Geld  an Polizisten gegeben. Geld, das ihnen den Weg frei gemacht hat.

 

Während Samir erzählt sind einige andere Leute aus dem Camp dazugekommen. Manche sprechen gebrochen Englisch, verstehen was Samir sagt. Andere lassen sich von Samir übersetzen was er mir erzählt. Ich sehe in aufgewühlte Gesichter, die Samirs Geschichte durch ein Kopfnicken bestätigen. Soviel Trauer ist zu sehen und doch viel Mut um nach vorne zu blicken. Unter meinen Armen schaut plötzlich ein kleiner Kopf hervor. Ein kleiner Junge schaut mich mit wunderschönen braunen Augen an. Er lächelt und sagt auf Deutsch: drei, zwei, vier.. ganz langsam drei deutsche Worte, um mir zu zeigen, dass er auch da ist.

Ich streichel ihm über den Kopf und sage Samir, er  soll dem Kleinen sagen, dass er das super gemacht hat. Ich lache mit ihm und er bleibt einfach da.

 

Von Budapest aus gelangen Samir und seine Gruppe in das erste deutsche Camp in München. Dort werden sie registriert und geben ihre Papiere ab. Von München werden sie in ein Camp nach Dortmund gebracht, von Dortmund nach Wuppertal, von Wuppertal nach Paderborn, dann nach Hof und letztendlich endet ihre Flucht in Iserlohn.  Das sechste Camp in Deutschland wird erst einmal ihre neue Heimat. 150 Menschen leben hier zusammen auf engem Raum. Trotzdem ist Samir glücklich. Drei Mal am Tag wird Essen in das Camp gebracht. Um 8.00 h Frühstück, um 13.00 h Mittagessen, um 18.00 h Abendbrot.  Samir fühlt sich sicher. Das Leben im Camp ist nicht einfach. Samirs Bruder liegt im Grunde den ganzen Tag auf dem Bett. Er starrt an die Decke, weint oft. Er denkt an seine Frau und die beiden Kinder in Syrien. Er hofft, dass die Regierung bald die nötigen Papiere ausstellt, damit er wieder mit seiner Familie zusammen sein kann.  Samir ist dankbar hier zu sein. Er erzählt mir auch, dass er nichts mehr hat. Keine persönlichen Dinge, kein zu Hause, keine Arbeit. Nur seine Erinnerungen an ein Syrien von früher, an seine Eltern, die dort noch leben.  Eltern, von denen er nicht weiß, ob er sie noch einmal wieder sieht. Samirs Schwester ist mittlerweile in einem Camp in Hamburg angekommen. Auch sie hat es geschafft zu flüchten. Es beruhigt ihn zu wissen, dass sie in Sicherheit ist. Er wünscht sich, sie bald, irgendwann wieder zu sehen. Samir besucht zweimal wöchentlich eine Schule, jeweils für zwei Stunden, um die deutsche Sprache zu lernen. Diese Kurse werden für Menschen zwischen 17 und 30 angeboten. Samir nutzt seine Chance. Er hilft auch hier im Camp, wo er kann. Übernimmt ehrenamtliche Tätigkeiten. Samir wünscht sich eine Schultafel und Kreide. Er könnte damit die Kinder hier im Camp unterrichten. Z.B. die deutschen Wörter, die er lernt weitergeben, oder Zahlen oder, oder, oder..

Insgesamt ist das Leben hier im Camp langweilig sagt Samir. Viele liegen nur auf dem Bett und warten darauf, dass der Tag rumgeht. Bei gutem Wetter kann man auf einem angrenzenden Platz z.B. Fußball spielen. Die Kinder spielen vor dem Camp, dort ist etwas Platz zum Toben. Manchmal kommen auch deutsche Familien vorbei und holen die Kinder zu einem Ausflug ab. Samir ist überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Iserlohner, von der Unterstützung, die die Menschen hier im Camp erhalten. Samir wünscht sich sehr, dass die Registrierung durch die Behörden bald anläuft. Ein weiterer Schritt in eine Zukunft.

 

Wir haben die Möglichkeit kurz einen Blick in das Innere des Camps zu werfen. Das was wir sehen macht uns betroffen.  Im vorderen Bereich schlafen die Älteren, dann Jüngere und hinten die Familien mit Kindern. Tatsächlich liegen einige Leute einfach auf ihrem Bett. Ich glaube, dass viele von Ihnen, wenn nicht alle, soviel Schlimmes erlebt haben wie Samir. Vielleicht fällt hier im Camp erst einmal alles in sich zusammen. Während der Flucht musste jeder stark sein, Schwäche hätte unter Umständen den Tod bedeutet. Immer stark zu sein bedeutet auch angespannt zu sein. Stets vorsichtig, umsichtig und verantwortungsvoll.  Jetzt im Camp wird sich wahrscheinlich so manch einer bewusst, was die letzten Wochen und Monate passiert ist. Erschöpfung macht sich bemerkbar, die erst einmal dazu führt untätig zu sein.

 

Während Samir erzählt hat sind die Menschen um uns herum offener geworden. Sie scheinen Vertrauen gefasst zu haben und werfen Sätze und Wörter in Samirs Erzählungen ein. Auf dem Tisch liegen bunte Papierbögen für die Kinder. Irgendeiner fängt an ein Boot zu basteln. Ein weiterer bastelt ein Flugzeug. Wir versuchen das Fingerspiel Himmel und Hölle zu basteln. Samir und sein Onkel kennen es und gemeinsam bekommen wir es hin. Wunderschöne braune Kinderaugen strahlen. Wir zeigen ihnen, wie sie ihre kleinen Finger in das Fingerspiel stecken müssen, um es bewegen zu können. Nach Samirs Erzählungen ist es schön jetzt auch miteinander zu lachen.

Ein Mann hat ein Flugzeug gebastelt, zweifarbig, stabil. Auf die Tragflächen schreibt er mit Hilfe eines Übersetzers und uns:

 

WÖRTER  OHNE  GRENZEN