Eine geheimnisvolle Erinnerung

Wir kennen sie alle. Die alte Dame aus Haus Nummer 37. Sie wohnt dort in der ersten Etage, alleine. Ihre Wohnung  ist im ersten Obergeschoss. Selten sieht man dort Licht. Abends scheint sie eine oder mehrere Kerzen  anzuzünden, deren Schein man durch die Fenster sehen kann.

Sie hat die Augen extrem geschminkt und mit einem schwarzen Lidstift sowohl das Lid als auch die Augenbrauen nachgezogen. Roter Lippenstift macht ihre schmalen Lippen deutlich.  Die langen, etwas zotteligen Haare sind meist mit einem Tuch zusammen gebunden. In der kalten Jahreszeit trägt sie stets einen schwarzen langen Mantel und hat schwarze Stulpen über den Armen. Auch ihre Schuhe sind schwarz und ihr Gang forsch. Nie haben wir sie in Hosen gesehen, sie trägt immer lange dunkle Röcke. Man hört, dass sie früher Theater gespielt hat. Das würde zu ihr passen, sie ist auf ihre Art außergewöhnlich.

Die Dame hat etwas Faszinierendes an sich. Auch etwas Unheimliches. Die Kinder haben  Angst vor ihr. Das liegt aber eigentlich  daran, dass sie für ihr Alter so anders aussieht.  Obwohl niemand einschätzen kann, wie alt sie wirklich ist. Die Menschen begegnen ihr mit Respekt und manch einer schaut ihr heimlich hinterher, weil sie so ist wie sie ist. Sie selbst ist stets freundlich und höflich. Trotzdem eine Einzelgängerin.

Sie ist zu verschiedenen Tageszeiten unterwegs. Manchmal früh morgens, wenn die Jalousien in der Nachbarschaft hoch gehen, kommt sie schon zurück nach Hause. Das ist meist an den Tagen der Fall, wenn Markt ist in unserer Stadt. Sie geht schon in der Dunkelheit dort hin, offensichtlich um nicht so gute Ware zu ergattern, für wenig Geld, oder umsonst. Einmal treffe ich sie im Park auf ihrem Rückweg und sie zeigt  mir dankbar eine große Tomate, die leicht eingedellt ist. Sie sagt, der Marktverkäufer hätte sie ihr geschenkt. Ein anderes Mal erzählt  sie mir, dass sie schon einkaufen gewesen ist, weil an diesem Tag Kiwi im Angebot sind und sie diese sehr gerne isst.

Die alte Dame findet man auch immer mal am Papiercontainer. Sie sucht dort nach Zeitungen, die sie gerne mit nach Hause nimmt. Eine eigene kann sie sich nicht leisten und ich weiß, dass es Nachbarn gibt, die extra Zeitungen und Zeitschriften  in den Container werfen, um ihr eine Freude zu machen.

Wer durch den Wald geht trifft die alte Dame an den Bächen mit dem kühlen Wasser aus den Quellen in der Nähe des Danzturms. Sie ist dann mit leeren Plastikflaschen unterwegs, um diese mit Frischwasser zu füllen. Sie hat mir gesagt, dass dies ihr Trinkwasser ist und auch das, mit dem sie kocht. Dieses Wasser sei viel gesünder als das, welches aus dem Wasserhahn kommt.

Das geheimnissvollste an ihr ist die Fähigkeit mit den Vögeln in unserem Park zu sprechen. Es sind schwarze Vögel, die irgendwie wieder zu ihr passen. Man kann sie sehen und beobachten, wenn sie im Park stehen bleibt und „ihre“ Vögel ruft. Es dauert gar nicht lange, dann kommen drei / vier dieser  Vögel angeflogen. Sie setzen sich tatsächlich zu ihren Füßen auf den Boden. Nicht ganz nah, aber in weniger als zwei Meter Entfernung. Sie füttert sie mit Brotbröckchen, die sie in ihrer Manteltasche versteckt hat. Die Menschen um sie herum beobachten sie dabei und manch ein Kind bleibt erfurchtsvoll stehen. Sie hat irgendwann den Namen die Vogelfrau bekommen.

Eines Tages sieht man sie nicht mehr. Erst fällt es gar nicht auf, aber mit der Zeit beginnen wir uns zu fragen, wo sie geblieben ist. Das erste Obergeschoss im Haus Nr. 37 sieht verlassen aus. Es stellt sich heraus, dass die alte Dame in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Ihr Anderssein hat  letztlich dazu geführt, dass die Behörden entschieden haben, dass sie krank ist. Traurig ist das auf jeden Fall. Diese nette alte Dame, mitten unter uns, exotisch vielleicht, anders bestimmt ,aber krank?

Hier endet die Geschichte, niemand hat die Dame wieder gesehen, aber viele sprechen noch von ihr. Das was sie uns allen hinterlassen hat ist eine geheimnisvolle Erinnerung!