Samstagvormittag, 9.00 Uhr. Ich bin auf dem Weg in die Innenstadt. Die Welt vor meiner Haustür ist noch verschlafen. Mein direkter Nachbar und die Dame aus dem Haus am Ende der Straße kommen vom Bäcker zurück. Eilig, ertappt verschwinden sie in ihren Häusern. Wir kennen alle diesen Moment. Wach werden, aus dem Bett und kurz zum Bäcker. Keine Haare gemacht, ungeschminkt, Schlabberhose, Sweatshirt mit Eifleck von letzter Woche.  Dieses „ist ja noch früh – sieht ja keiner – Outfit“. Spätestens beim Bäcker, wenn der erste Bekannte ebenfalls den Verkaufsraum betritt fällt einem ein: Mist, Zähne noch nicht geputzt.

Als meine Nachbarn in ihren Häusern verschwunden sind, gehe ich los. Von meiner Wohnung aus geht es circa 50 Meter leicht bergab bis zur wenig befahrenen Hauptstraße, auf der ich bis in die Innenstadt gehen kann. Als ich den Berg hinunter laufe höre ich laute Stimmen. Ein Mann und mindestens eine Frau schreien sich an. Etwas beunruhigt gehe ich weiter und frage mich, was mich hinter der nächsten Ecke erwartet. Ich biege auf die Hauptstraße ab und an der Haltestelle, die nach ca. 10 Metern kommt sitzen ein paar Leute. Ein älterer Mann  sitzt im Haltestellenhäuschen  und zwei ältere Frauen stehen vor ihm. Sie unterhalten sich lautstark. Hörgeräte werden überbewertet und es kann ja auch jeder hören, was es zu sagen gibt. Sätze wie:“ hömma, isses bei dir auch so kalt in der Wohnung? Und „Du muss auch das Fenster zu machen nachts, dann isses au nich kalt“…. fliegen mir um die Ohren. Ich gehe grinsend an den Dreien vorbei.

Ein paar Meter weiter sehe ich im Augenwinkel einen Mann am Fenster stehen. Weißes Feinrippunterhemd, Jogginghose (glaube ich, weil ich nur den Bund sehe) Zigarette in der Hand. Er steht da und wünscht mir fröhlich einen guten Morgen. Ich grüße zurück und denke, dass Feinripp irgendwie ein Bild in mir verursacht, dass in eine andere Zeit gehört. Ich habe die Vision von Eichenmöbeln, bunten Teppichen und gemusterten Tapeten. Von einem Vogelkäfig in der  aus weißen, zusammengewürfelten Möbeln bestehenden Küche und einer Plastikdecke auf dem Küchentisch. Schon komisch was ein einfaches Unterhemd für Gedanken auslöst.

Nun komme ich an der Bäckerei vorbei und spontan gehe ich rein, um mir ein leckeres Croissant zu holen. Draußen fährt eine junge Mutter mit dem Fahrrad vor. Im Schlepptau ihre beiden kleinen Kinder. Eins mit einem Laufrad und eins mit einem Fahrrad mit Stützrädern. Ich schätze die beiden Jungen auf zwei und vier Jahre. Mir schießt so durch den Kopf, dass ich da ja früher richtig Lust zu gehabt hätte. Samstagmorgen, 9.00 h, zwei Kinder anziehen, und dann zum Bäcker mit dem Rad. …Die junge Mutter ist völlig entspannt und betritt mit den Kleinen die Bäckerei. Mark und Julian, erfahre ich sofort, heißen die Zwei. Sie spricht sehr ruhig und deutlich mit ihren Jungs. „ Mark, ich möchte nicht, dass Du Deine Nase so nah an die Glasscheibe drückst, da sind Bakterien dran und die können Krankheiten verursachen. Julian, bitte stell Dich an, wir wissen nicht, ob die Frau ( ich ) schon dran ist und man drängelt sich nicht vor.“ Das Beste ist nun, das beide Kinder sofort dem Gesagten folgen.  Ich bin schwer beeindruckt. Ehrlicherweise wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, so mit meinen Kindern zu sprechen in dem Alter und ich bin nicht ganz sicher, ob sie mich gehört hätten. J

Der ältere der Beiden starrt auf die Croissants in der Auslage und sagt zu seiner Mutter, dass er davon gerne eins hätte. Sie antwortet:“ Also Julian, das geht aber nicht. Du hattest zu Hause noch Bauchschmerzen und ich finde es befremdlich, dass Du jetzt ein Croissant essen möchtest. Croissants sind sehr fetthaltig, dass solltest Du aber inzwischen wissen. Ich werde ein Croissant kaufen, um dir eine Freude zu machen und ich denke Du kannst zu Hause die Hälfte davon essen. Wir müssen aber noch einmal darüber reden, was man essen darf, wenn man Bauchschmerzen hat.“  Ich stehe da und wahrscheinlich habe ich selten so verdutzt geguckt. Hat sie das gerade zu ihrem kleinen Sohn gesagt? Ich bin tatsächlich sprachlos und weiß nicht, ob ich lachen soll oder nicht. Die junge Mama verlässt mit ihren Kindern die Bäckerei, natürlich alle mit einem herzlichen: Vielen Dank und auf Wiedersehen. Draußen setzt sie erst den Jungs, dann sich selbst einen Helm auf und radelt davon.  Als ich dran bin bestelle ich ein Croissant für mich und bin froh, dass ich heute keine Bauschmerzen habe.

Als nächstes passiere ich den Bahnhof. Auf dem letzten Stück Weg dorthin ist es fast langweilig. Eine Gruppe junger Männer steht auf dem Bahnhofsvorplatz. Einer hat ein rosa Schweinchenkostüm an. Die anderen tragen ein T-Shirt mit der Aufschrift: Wir haben Schwein gehabt. Aha, ein Junggesellenabschied. Die Gruppe hat offensichtlich schon Spaß im Kopf und so muss es ja auch sein.

Nur noch zweihundert Meter trennen mich nun von der Innenstadt. Tatsächlich sind schon ein paar Leute mehr hier unterwegs. Alles ziemlich hektisch und schnell. Bis auf eine Frau. Sie steht unbeweglich da. Den Blick starr nach vorne gerichtet. Die Hände vor dem Oberkörper. In den Händen hält sie, na klar, den Wachturm. Ich frage mich, was sie bezwecken will. Glaubt sie, dass die Menschen die an ihr vorbeilaufen stehen bleiben und fragen, ob sie das Heft mal lesen dürfen? Oder hat sie einen Fleck im Mantel, den sie mit dem Heftchen verdecken will? Oder ist sie gar nicht echt? Sie bewegt sich gar nicht. Unglaublich, diese Körperbeherrschung.

Nun bin ich in der Innenstadt. Schon witzig, was man alles so erlebt und sieht auf dem Weg in die Stadt. 1,5 km Geschichte, die das Leben einfach mal so schreibt.